Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in dem sog. Scraping-Komplex das Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt.
Der für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus der Datenschutz-Grundverordnung zuständige VI. Zivilsenat verhandelte über zwei Revisionen, in denen sich die Frage stellt, welche Ansprüche Betroffenen zustehen, deren Daten im Rahmen eines sog. Scrapings von unbekannten Dritten erlangt und im Internet verbreitet wurden.
Anfang April 2021 wurden Daten von ca. 533 Millionen Facebook-Nutzern aus 106 Ländern im Internet öffentlich verbreitet. Unbekannte Dritte hatten sich zuvor den Umstand zu Nutze gemacht, dass die Beklagte es in Abhängigkeit von den Suchbarkeits-Einstellungen des jeweiligen Nutzers ermöglicht, dass dessen Facebook-Profil mithilfe seiner Telefonnummer gefunden werden kann. Die unbekannten Dritten luden mit Hilfe automatisierter Tools über die Kontakt-Import-Funktion der Beklagten in großem Umfang Telefonnummern hoch, führten diese, sofern sie mit einem Nutzerkonto verknüpft waren, mit den dort verbundenen öffentlich zugänglichen Daten zusammen und griffen diese Daten sodann ab (sog. Scraping).
Erster Fall
Ein Kläger macht geltend, Facebook habe keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um eine Ausnutzung der Kontakt-Tools zu verhindern. Ihm stehe wegen des erlittenen Ärgers und des Kontrollverlusts über seine Daten Ersatz für immaterielle Schäden zu. Er habe Ängste, Stress, Komfort- und Zeiteinbußen erlitten. Darüber hinaus begehrt der Kläger die Feststellung, dass Facebook verpflichtet sei, ihm in diesem Zusammenhang auch alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, und nimmt die Beklagte auf Unterlassung und Auskunft in Anspruch. Facebook hat die geltend gemachten Ansprüche abgelehnt, weil weder ein Verstoß gegen die Datenschutz-Grundverordnung vorliege noch dem Kläger ein kausaler Schaden entstanden sei.
Das zuständige Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm durch den unbefugten Zugriff Dritter auf das Datenarchiv der Beklagten entstanden sind und/oder noch entstehen werden. Im Übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Im Umfang der Berufungszurückweisung verfolgt der Kläger mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision seine ursprünglich geltend gemachten Ansprüche weiter.
Zweiter Fall
In einem zweiten Verfahren macht ein weiterer Kläger geltend, im Rahmen seiner Nutzung des sozialen Netzwerks Facebook seien durch unbekannte Dritte im Wege des Scrapings persönliche Daten (Telefonnummer, Facebook-ID, Name, Wohnort, Land und Arbeitgeber) abgeschöpft und im Darknet veröffentlicht worden. Er begehrt den Ersatz immateriellen Schadens, weil Facebook in mehrfacher Hinsicht gegen die Datenschutz-Grundverordnung verstoßen und seine Daten nicht ausreichend geschützt habe. Er habe einen erheblichen Kontrollverlust über seine Daten erlitten und verbleibe in einem Zustand großen Unwohlseins und großer Sorge über den Missbrauch seiner Daten. Darüber hinaus begehrt er die Feststellung, dass Facebook verpflichtet sei, ihm in diesem Zusammenhang alle künftigen Schäden zu ersetzen, und macht weitere Unterlassungs- und Auskunftsansprüche geltend.
Das zuständige Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Beschluss des BGH vom 31. Oktober 2024 – VI ZR 10/24
Nach der durch das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof vom 24. Oktober 2024 (BGBl. I Nr. 328) neu geschaffenen Vorschrift des § 552b ZPO kann der Bundesgerichtshof ein bei ihm anhängiges Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen, wenn die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist. Mit der Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren ist eine Entscheidung über die Rechtsfragen auch dann zu treffen, wenn eine inhaltliche Entscheidung über die Revision aus prozessualen Gründen nicht mehr ergehen kann. Damit soll eine zügige höchstrichterliche Klärung trotz der Rücknahme von Revisionen aus prozesstaktischen Gründen oder aufgrund eines Vergleichs ermöglicht werden.
Das zum Leitentscheidungsverfahren bestimmte Revisionsverfahren VI ZR 10/24 wirft die Rechtsfragen auf,
- ob in der von der Beklagten bei Implementierung der sog. Kontakt-Import-Funktion vorgenommenen Standardvoreinstellung auf „alle“ ein Verstoß der Beklagten gegen die Datenschutz-Grundverordnung im Sinne des Art. 82 Abs. 1 DSGVO liegt,
- ob der bloße Verlust der Kontrolle über die gescrapten und nunmehr mit der Mobiltelefonnummer des jeweiligen Betroffenen verknüpften Daten geeignet ist, einen immateriellen Schaden im Sinne des Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu begründen,
- wie in einem solchen Fall der Schaden zu bemessen wäre,
- welche Anforderungen an die Substantiierung einer Schadensersatzklage nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO zu stellen sind,
- ob die bloße Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden ausreicht, um ein Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO zu begründen,
- ob die vom Kläger gestellten Unterlassungsanträge dem Bestimmtheitsgebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO genügen
Diese Rechtsfragen sind für eine Vielzahl beim Bundesgerichtshof und in den Tatsacheninstanzen anhängiger, in wesentlichen Teilen gleichgearteter Verfahren von Bedeutung. Diese Verfahren können nunmehr grundsätzlich bis zur Erledigung des Leitentscheidungsverfahrens ausgesetzt werden.
Weiterer Fortgang
In den zwei zunächst zur Verhandlung am 8. Oktober 2024 vorgesehenen Verfahren sind die Revisionen von den Klägern kurzfristig vor dem Termin zurückgenommen worden. Für den 11. November 2024 ist Termin zur mündlichen Verhandlung in dem nunmehr zum Leitentscheidungsverfahren bestimmten Revisionsverfahren VI ZR 10/24 anberaumt.
Fundstellen:
- Pressemitteilung Nr. 206/2024 des BGH vom 31. Oktober 2024 – abrufbar im Internet unter https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/2024206.html;jsessionid=6877514D9BFD52E7C7170745634748FF.internet012?nn=10690868
- Pressemitteilung Nr. 115/2024 des BGH vom 22.05.2024 – abrufbar im Internet unter https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/2024115.html?nn=10690868